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Zwei Jahre nach dem tragischen Verkehrsunfall kehrt Ingrid endlich heim. Das Haus ist voller Erinnerung, die es ihr zusätzlich schwer machen mit den Schuldgefühlen fertigzuwerden. Sie war nicht nur die einzige Überlebende, sondern auch die Fahrerin, die den Unfalltod ihrer Familie verursacht hatte. Sie spürt eine Präsenz in dem Haus und ist sich sicher, dass ihr geliebter Mann Kontakt aus dem

Jenseits zu ihr aufnehmen will.

Das halb so alte Medium Andrea will ihr dabei behilflich sein, doch stößt Ingrid mit dieser Offenbarung bei ihren Schwiegereltern auf Ablehnung. Ingrid erkennt, dass sie sich entscheiden muss. Entweder lebt sie nach wie vor mit der Schuld oder sie nimmt Andreas Hilfe an und verliert dadurch die Familie ihres Mannes.

Ingrid glaubt daran, dass sie ein Seelenbinder ist und nimmt das Angebot einer paranormalen Gruppe an, eine Geisterjagd in ihrem Haus durchzuführen, um endlich Antworten zu bekommen.

 

Dies ist nicht nur ein tragischer Liebesroman, der sich vor allem darauf konzentriert mit der Trauer umzugehen, wenn man den geliebten Partner verliert, sondern auch wie schwer es für den Überlebenden ist mit dem Verlust zurechtzukommen.

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Covergestaltung: rdhbookcoverdesigns

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KAPITEL 1

 

„Kommt endlich, sonst fahre ich allein“, hallte die Ermahnung nun schon zum dritten Male laut durch den Flur.

Ungeduldig hielt Ingrid bereits die Türklinke in der Hand und blickte erwartungsvoll die Treppe hinauf. Nochimmer machte keiner der Adressaten Anstalten diese lärmend herunterzupoltern. Stattdessen fasste man ihre ungeduldige Aufforderung so auf als handelte es ich um ein Angebot sie mit Fragen bombardieren zu können.

„Schatz, die gepunktete Krawatte ist doch sicherlich in Ordnung?“

„Wo ist meine Hose, Mama?“

„Mama, wo sind meine Schuhe?“

„Nein, ist sie nicht. - Und, Jungs, eure Sachen sind dort, wo ihr sie ausgezogen habt!“, kam es genervt zurück.

Die Antwort war ebenso unnötig wie hilfreich, doch Ingrid hatte es einfach satt. So war es immer.

Nie schafften sie es als Familie das Haus pünktlich zu verlassen. Immer wurde alles auf den letzten Drücker erledigt und dabei kam niemand ohne ihre Hilfe aus. Ingrid fühlte sich nicht nur wie das Mädchen für alles, sondern kam sich vor wie ein wandelndes Informationsbüro. Offensichtlich glaubte jeder, dass Ingrid nichts Besseres zu tun hatte als über den genauen Verbleib jedes noch so kleinen Gegenstands im Haus bescheid zu wissen und mental Buch darüberzuführen.

„Schatz, soll ich die gestreifte Krawatte nehmen?“, rief Jens verunsichert in den Flur hinein und offenbarte mit der Aussage, dass er immer noch nicht ausgehfertig war.

In dieser Beziehung stand er seinen Söhnen in nichts nach. Allmählich kam sie sich in ihrem Cocktailkleid albern vor. Sie, die alleinige Frau in diesem Haushalt, war das einzige Familienmitglied, dass seit einer Stunde gespornt und gestiefelt war, obwohl man Frauen im Allgemeinen nachsagte, dass sie eine Ewigkeit zum Anziehen brauchten.

Ingrid verkniff den Mund und stapfte die Stufen undamenhaft hinauf. Ein äußeres Zeichen dafür, dass sie die Sache endgültig vorantreiben wollte. Die Zeit drängte wollten sie rechtzeitig zur Trauung erscheinen und nicht das alles Entscheidende, „Ja, ich will“, verpassen. Ingrid sah sich gezwungen ihren Lieben bei der Suche behilflich zu sein.

Auf den Weg zum elterlichen Schlafzimmer musste sie zunächst an dem gemeinsamen Zimmer ihrer beiden Söhne vorbei. Mit einem kurzen Blick löste sie das Rätsel der unauffindbaren Schuhe. Diese lagen unter dem Bett.

Dem Ort, an dem der achtjährige Nikolas alles Mögliche zu verstauen schien. Sie machte ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam und bekam die erwartungsgemäße Beteuerung, dass er dort bereits erfolglos nachgeschaut hatte. Ingrid rang dies nur ein müdes Lächeln ab. So war es immer.

Währenddessen stolzierte ihr Daniel aus dem Badezimmer entgegen. Offenkundig fühlte er sich mit seiner neuen Frisur sehr wohl. Die Haare standen in allen Richtungen vom Haupt ab.

Entgeistert blickte sie ihn an.

„Haargel“, erwiderte Daniel knapp und schob sich an seiner Mutter vorbei.

Ingrid schloss für einen Moment die Augen. Sie beschloss die Sache auf sich beruhen zu lassen, da keine Zeit mehr zum Haarewaschen blieb. Der dreizehnjährige musste mit seiner Eigenkreation leben. In spätestens fünf Jahren, würde er beim Betrachten der Partybilder bemerken, wie albern er aussah.

„Sieh mal, was ich gefunden habe“, gab Jens stolz von sich und deutete dabei auf seinen Hals, als er seine Frau durch die geöffnete Schlafzimmertür im Flur entdeckte. 

„Bist du verrückt geworden?“, fragte sie mit einem aggressiven Unterton und schüttelte energisch den Kopf.

„Wieso? Fliegen kommen wieder in Mode“, verteidigte Jens seine Wahl und erntete nur einen genervten Blick.

„Möglicherweise in zehn Jahren, doch nicht heute. Also mache dich nicht zum Gespött und binde dir diese Krawatte um“, bestimmte sie, während sie zum Schrank eilte und mit zielsicherem Griff den entsprechenden Schlips herausnahm. Auffordernd hielt sie ihn ihm entgegen.

Jens gab kommentarlos nach. 

Ingrid beobachtete ihn und dachte darüber nach, was die Familie nur ohne sie machen würde. Sie taten alle so, als hätten sie unendlich Zeit. Diese notorische Trödelei war ihr schon immer auf die Nerven gegangen. Es war schon fast ein Ritual, dass sie ein Stoßgebet mit dem Wunsch, man möge sie doch endlich davon befreien, gen Himmel schickte.

„Jens, beeile dich endlich. Wir schaffen es nicht mehr, wenn du nicht endlich Gas gibst.“

„Was bist du, denn so ungeduldig? Wäre doch auch kein Beinbruch, wenn wir etwas später kommen, schließlich sind wir nicht die Trauzeugen“, versuchte er sie zu beruhigen.

„Beeile dich! Ich warte mit den Kindern im Auto auf dich.“

Das ihr Jens durch den Schlafzimmerspiegel nachschaute, bekam sie nicht mit. Sie sammelte die Söhne ein und scheuchte diese die Treppe hinunter, damit sie im Wagen auf ihren Vater warten konnten. Ungeduldig wartete sie auf ihren Mann. 

Ingrid stöhnte auf, als sich Jens endlich blicken ließ und für ihren Geschmack die Tür zu langsam abschloss. Sein sportlich federnder Schritt, wirkte auf sie wie eine Provokation.

Ingrid saß bereits hinterm Steuer.

„Willst du nicht lieber, dass ich fahre?“, erkundigte sich Jens verwundert, als er in das verbissene Gesicht seiner Frau blickte.

„Nein, Danke! Wir haben schon genug Zeit verschwendet“, antwortet Ingrid in einem bissigen Ton und las an seinem Gesichtsausdruck ab, dass er die eigentliche Aussage verstanden hatte.

„Ich meinte ja nur, wegen deiner Schuhe“, versuchte Jens einzulenken und hoffte, dass die Jungs nichts von dem sich anbahnenden Streit mitbekamen.

„Wäre nicht das erste Mal, dass ich in hochhackigen Schuhen fahren muss“, gab sie zurück und spielte dabei auf die Tatsache an, dass Jens auf Feiern gern mal etwas zu viel trank.

Ihr Mann schien begriffen zu haben und setzte sich schweigend auf den Beifahrersitz. Ingrid fühlte ein wenig Genugtuung in sich aufsteigen und gab Gas. Die Reifen quietschten für einen kurzen Moment in der Einfahrt auf und veranlassten die Jungs zum Jubeln, während sie sich einen missbilligenden Seitenblick von Jens einhandelte.

Rasant lenkte sie den Wagen auf die Straße und brauste davon.

Ingrid hoffte nur, dass sie nicht in einen Stau gerieten. Ohnehin spürte sie bereits den Zeitdruck. Hatte sie Pech, würden alle Parkplätze vor dem Standesamt belegt sein und sie gezwungen sein sich auf die Suche nach einer alternativen Abstellmöglichkeit zu machen. Ingrid malte sich alle möglichen Problemsituationen aus und setzte sich dadurch zusätzlich unter Druck. Sie hatte das Gefühl es nicht rechtzeitig zu schaffen. Unbewusst trat sie das Gaspedal weiter durch. Sie versuchte die vermeidlich verlorene Zeit aufzuholen. Empfindlich überschritt sie dabei die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung.

„Schatz, du liegst bereits zwanzig Stundenkilometer über dem Limit“, versuchte Jens dezent anzumerken, doch erreichte damit nur, dass sich Ingrid angegriffen fühlte. 

„Hättest du nicht so getrödelt, dann brauchte ich mich jetzt nicht so beeilen“, presste sie gereizt hervor, wobei sie ihn dabei strafend von der Seite ansah. Sie wollte vermeiden, dass die Kinder etwas von den Spannungen zwischen ihnen mitbekamen.

„Was bist du, denn so aggressiv?“, wollte Jens wissen.

„Ich habe einfach genug davon, dass du mich permanent belehrst“, platzte sie hervor.

„Ich belehre dich?“, fragte er verwundert. „Wie kommst du, denn auf diesen Unsinn?“, hakte er verwundert nach.

„So Unsinn, ist es also für dich! Was bin ich eigentlich für dich, außer deine Dienstmagd?“

Für einen kurzen Moment sahen sie sich an und Ingrid konnte in seinem Blick erkennen, dass er wirklich keine Ahnung hatte, worüber sie sich so aufregte.

„Pass auf!“, schrie Jens, der seinen Blick wieder auf die Straße richtete und gleichzeitig mit dem Finger durch die Windschutzscheibe deutete.

Ingrid schaute in die angewiesene Richtung und riss zeitgleich das Lenkrad heftig herum, während der Fuß das Bremspedal bis in die Bodenplatte durchdrücken zu schien.

Die Reifen quietschten.

Die Familie schrie.

Der Wagen geriet außer Kontrolle.

Ingrid hatte die Gewalt über das Fahrzeug verloren und bekam nur noch am Rande mit, dass sie eine Kollision mit dem auf der Straße befindlichem Hund vermieden hatte. Ob das Tier verängstigt davonlief oder den weiteren Verlauf beobachtete, konnte Ingrid nicht sagen, da sie es aus den Augen verlor. Nichts interessierte sie in diesem Moment weniger als das Wohl des Hundes.

Das eigentlich als sicher empfundene Familiengefährt verwandelte sich zum Geschoss. Sie spürte nur, wie der Gurt sie fest in den Sitz zurrte und ihr nahezu den Atem raubte. Ingrid realisierte eine Gefangene in ihrem eigenen Wagen zu sein und nicht gegen die Naturgesetze anzukommen. Sie konnte nicht erkennen, was mit ihrer Familie war, zu schnell lief die Zeit ab. Unbeweglich an ihren Sitz gefesselt konnte sie nicht unterscheiden, ob die Schreie, die sie vernahm, ihre eigenen oder die ihrer Kinder waren.

Ein erneuter harter Ruck ging durchs Fahrzeug und danach umfing Ingrid Dunkelheit und Stille.

 

 

Mit entsetzten beobachteten Passanten den Unfall.

Diejenigen, die die rasante Fahrt des PKW nicht verfolgt hatten, wurden durch das unverkennbare Geräusch quietschender Reifen auf trockenen Asphalt dazu gebracht, in die Richtung zu blicken. Offenbar hatte der Fahrer des Fahrzeuges den auf die Straße gelaufenen Hund zu spät bemerkt und setzte nun alles dran, dass Tier nicht zu überfahren.

Alle vermutlich intuitiv eingeleiteten Maßnahmen entpuppten sich als falsch und hatten zur Folge, dass der Wagen unkontrollierbar wurde. Durch das zeitgleiche Herumreißen des Lenkrades während der Vollbremsung wurde der Wagen komplett aus der Bahn geworfen und entwickelte sich zu einer Kanonenkugel, der sich zunächst überschlug und dann in eine Straßenlaterne krachte. Trotz des Lärms, der diese Szene mit sich brachte, war das panische Geschrei aus dem Innenraum nicht zu überhören und ließ jeden Beobachter einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Unweigerlich wurde man daran erinnert, dass hier nicht nur eine Maschine gegen eine Straßenlaterne prallte, sondern dass das Fahrzeug voller Insassen war die Hilfe brauchten.

Einige Passanten setzten sofort, nachdem sie die Schrecksekunde überwunden hatten, Notrufe ab; während andere direkt aufs Fahrzeug zu rannten. Dass die Schreie verstummten, ließ nichts Gutes vermuten.

Die Karosserie war so verbogen, dass es unmöglich war, ohne den Einsatz von technischem Gerät ins Wageninnere zu gelangen. Versuche in diese Richtung blieben erfolglos.

Ein jeder ging mit seiner Hilflosigkeit anders um. Einige versuchten es dennoch und sprachen unentwegt auf den Schrotthaufen ein, in der Hoffnung den Menschen in dessen Mitte so die Gewissheit zugeben, nicht allein zu sein und die Bestätigung zu geben, dass Hilfe unterwegs sei. Andere starrten nur stumm auf das ehemalige Fahrzeug, während wieder andere das Ganze auf ihren Handys filmten.

Der Pulk wurde allmählich größer als Sirenen aus der Ferne immer lauter wurden. Als erstes traf ein Polizeiwagen ein, direkt gefolgt von der Feuerwehr und einer Ambulanz. Der Unfallort wurde sofort abgesichert und die Schaulustigen hinter die Absperrung gedrängt. Die Einsatzkräfte waren eingespielt und jeder erfüllte routiniert seine Aufgabe.

Der Wagen hatte sich dermaßen verkeilt, dass die Feuerwehrleute ihn nur mit schwerem Bergungswerkzeug aufbekamen. Unverzüglich begann man mit der Befreiung der Opfer. Den Schaulustigen bot sich ein Spektakel. Aufgrund der Schwere des Unfalles, waren mehrere Ambulanzen angefordert worden, so dass sich mittlerweile mehrere Rettungsfahrzeuge vor Ort befanden. Es war kein gutes Zeichen, dass der erste Krankenwagen ohne Sirene losfuhr. Vermutlich kam für den Verunfallten jede Hilfe zu spät. Die nachfolgende Ambulanz hingegen raste mit Blaulicht und Sirene los, ebenso wie der Krankenwagen, der als nächstes losfuhr. Der letzte Wagen, allerdings verzichtete ebenfalls auf einen Einsatz der Sirenen.

Die Arbeit der Rettungssanitäter und Feuerwehrleute war geleistet. Am Unfallort verblieb nur noch die Polizei. Neugierig wurden sie dabei beobachtet, wie Beamte Zeugenaussagen aufnahmen, Aufnahmen vom Unfallort anfertigten, Spuren vermaßen und alles anschließend aufräumten.

Nach nur vier Stunden deutete, außer der verbogenen Straßenlaterne, nichts mehr auf diesen tragischen Vorfall hin. Alles wirkte normal und konnte seinen gewohnten Gang nehmen.

 

                                                                   *

Langsam schlug Ingrid die Augen auf.

Das Licht tat ihr weh.

Vorsichtig versuchte sie sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Zunächst machte sie verschwommene Umrisse aus. Es brauchte seine Zeit, bis sie erkannte, dass das weiße Gebilde über ihr eine Zimmerdecke war. Bedächtig wandte sie den Kopf zur Seite, damit sie sich umsehen konnte.

Neben ihrem Bett stand ein Monitor, der ihren Herzschlag und Puls überwachte. Für einen kurzen Moment schloss sie wieder die Augen und berührte mit der Hand ihren Kopf. Sie stöhnte.

Ingrid empfand keine Schmerzen. Sie musste herausfinden, wo sie war. Erneut öffnete sie die Lider. Diesmal gelang es ihr sich etwas länger umzusehen. Dies war definitiv nicht ihr Schlafzimmer. Allem Anschein nach, war sie in einem Krankenhaus. Doch warum? 

Die Ungewissheit setzte sie unter Stress. Unweigerlich erhöhte sich der Herzschlag; worauf der Monitor ein Signal auslöste, dass eine Schwester in den Raum lockte.

Ingrid bemerkte die Überraschung im Gesichtsausdruck der Schwester, als diese auf sie zugelaufen kam, nachdem sie zuvor in den Flur rief: „Schnell einen Arzt in Zimmer 17!“

Ingrid war sehr durcheinander und versuchte die Situation zu verstehen. Sie bewegte den Mund, versuchte zu sprechen, doch kein Wort drang über ihre Lippen.

„Sch… sch…! Sie müssen es langsam angehen lassen“, mahnte die Schwester und sah sie dabei neugierig an. „Nicken Sie bitte, wenn Sie mich verstehen.“

Ingrid nickte und schluckte. Ihr Mund fühlte sich so trocken und gleichzeitig pelzig an. Obwohl es ihr unendliche Mühe bereitete, wollte und musste Ingrid sprechen. Sie hatte so viele Fragen. Sie verstand nicht, was vor sich ging. Die Situation machte ihr Angst. Ingrid begriff nicht, weshalb sie hier war. Wusste die Familie, wo man sie hingebracht hatte?

„Wo bin ich? Wo sind mein Mann und die Kinder?“, krächzte sie kaum vernehmbar und schaute dabei die Schwester an. 

Das diese sie nur unverbindlich anlächelte und dann an ihr vorbei auf den Monitor schaute, steigerte Ingrids Angst.

„Wo sind meine Kinder?“, krächzte sie aufs Neue.

Beruhigend schüttelte die Krankenschwester den Kopf.

„Das wird Ihnen der Arzt sagen. Keine Sorge, es ist alles in Ordnung!“

Ingrid mochte die Antwort nicht.

Solche Antworten, waren nicht gut. Solche Antworten, waren Ausflüchte. Ingrids Angst verstärkte sich und verlieh ihr einen kleinen Adrenalinstoß. Bevor sie allerdings noch etwas erwidern konnte, erschien ein Arzt auf der Bildfläche.

Freudig überrascht blickte er seine Patientin an.

„Na, da sind Sie ja wieder!“, begrüßte er sie, als wäre sie weg gewesen. „Wir haben uns schon langsam Sorgen, um Sie gemacht. Aber jetzt kommt alles wieder in Ordnung!“ Ohne Umschweife begann er mit der Untersuchung.

Ihr wurde es zu viel. Ihr eigener Gesundheitszustand, war das letzte was sie interessierte. Sie musste wissen, wo ihre Familie war.

Ingrid zuckte zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde, waren Bilder in ihrem Kopf aufgeblitzt. Trotz des schnellen Ablaufes waren sie deutlich gewesen. Sie hatte die Familie und sich im Auto gesehen. Sie waren festlich angezogen, wie auf der Fahrt zu einer Feier.

Plötzlich erinnerte sich Ingrid wieder. Sie waren auf den Weg zur Hochzeit als wie aus dem Nichts ein Hund auf die Straße gesprungen war und sie das Lenkrad herumriss, um ihn auszuweichen… dann war alles dunkel.

Ingrid erschrak, als ihr bewusst wurde, dass sie einen Unfall gehabt hatten. Offensichtlich war das Fahrzeug irgendwo gegen geprallt und hatte bei ihr eine Gehirnerschütterung verursacht.

Mit einem Male war sie hellwach. Die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Familie, machte ihre eigne Verletzung zur Nebensache. Die Sorge um ihre Kinder verlieh ihr neue Energie. Sie spürte, dass ihre Familie sie brauchte. Ingrid wollte zu ihnen.

Sie bekam den Arm des Arztes zu fassen und hielt ihn, trotz ihres Zustandes, kraftvoll fest. Diesmal wollte sie sich nicht mit Ausflüchten abspeisen lassen. Entschlossen blickte sie ihn an und verlangte klar und deutlich: „Was ist mit meiner Familie geschähen? Sind sie auch hier im Krankenhaus?“

Verlegen lächelte der Doktor sie an und versuchte seinen Arm zu befreien. Zu seiner Verwunderung war der Griff unnachgiebig.

Ingrid wollte die Wahrheit wissen. Ihr Blick wurde fordernder und die Stimme energischer.

„Wo ist meine Familie?“, wiederholte sie.

Der Arzt räusperte sich.

„Das wird Ihnen der Chefarzt sagen. Sein Sie bitte vernünftig und beruhigen Sie sich wieder.“

Ingrid missfiel sein Verhalten. Es war zu offenkundig, dass er ihr etwas verheimlichte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie und sie begann zu schreien.

„Was ist mit meiner Familie?“

„Bitte beruhigen Sie sich wieder“, flehte er sie an, während er sich rasch der Schwester zu wandte und ihr eine kurze Anweisung bezüglich eines Medikamentes gab.

„Der Chefarzt wird alle Ihre Fragen beantworten. Ich bin nicht befugt Ihnen Auskunft zu erteilen. Bitte seien Sie vernünftig!“

Ingrid hatte genug, von diesem Theater. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu, dass spürte sie ganz deutlich. Man hielt sie hin und gegen ihren Willen fest. Das konnte sie sich nicht gefallen lassen. Sie hatte Rechte. Wenn er sich weigerte, mit ihr darüber zu reden, dann wollte sie jemanden finden, der es tat.

Die Wut, die sie verspürte verlieh ihr unerwartete Kräfte. Zornig ließ sie den Kittel des Arztes los und schlug energisch die Bettdecke fort. 

Es fiel ihr zwar nicht leicht sich aufzurichten, doch schaffte sie es unter enormer Kraftanstrengung. Sofort erfasste sie ein Schwindel, als sich ihr Oberkörper in die vertikale Position bewegte. Offenbar hatte sie lange gelegen. Der Kreislauf musste sich an derartige Aktionen erst wieder gewöhnen. Das Aufrichten fiel ihr schwerer, als erwartet. Unwirsch strampelte sie sich frei, um aufzustehen und dieses Zimmer zu verlassen. Sie würde schon irgendwen finden, der ihr Auskunft gab; selbst, wenn sie gezwungen war, bei der Suche das gesamte Krankenhaus auf den Kopf zu stellen.

Die bonierte Art des Arztes, wollte sich Ingrid nicht gefallen lassen. Was bildete er sich ein, sie so zu behandeln? Aber ihm würde sie schon zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Offensichtlich hatte er bereits seinen Fehler erkannt, da er sie nicht zurückhielt.

Endlich schaffte sie es sich im Bett aufzusetzen. Ihr Blick fiel dabei ans Fußende. Augenblicklich hielt sie inne.

Stumm starrte sie auf ihre Beine als seien sie ihr unbekannt.

Wie nicht anders erwartet steckten sie in Thrombose Strümpfe. Doch war ihr Anblick nicht, wie gewohnt. Etwas stimmte nicht und das konnte unmöglich an den Strümpfen liegen. Das linke Bein war kürzer. Vom Unterschenkel abwärts, fehlte etwas.

Ingrid hyperventilierte.

Dies musste eine Sinnestäuschung sein. Dies konnte nicht real sein. Sie musste sich irren. Unmöglich konnte sie auf einen Stumpf starren. Ein schleichendes Gift gleich, drang allmählich in Ingrids Bewusstsein, dass man ihr den Fuß amputiert hatte. Der Schock saß tief.

Für einen Moment war die Familie vergessen.

Sie konnte nicht begreifen, weshalb man ihr das angetan hatte.

Ingrid schrie gellend auf.

Der Schrei drückte den Horror aus, den sie in diesem Augenblick der Realisierung durchlebte. Ingrid konnte sich nicht beruhigen. Sie glaubte an eine Täuschung und versuchte sich nach vorn zu beugen, um die Körperstelle zu berühren; doch es gelang ihr nicht. Panisch blickte sie den Arzt an.

„Was haben Sie getan?“

„Beruhigen Sie sich. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Sie hatten einen Unfall!“, versuchte er sie mit sanfter Stimme zu beruhigen.

Ingrid war weit davon entfernt sich zu beruhigen.

„Was haben Sie getan?“, schrie sie hysterisch, wobei sich die Stimme überschlug.

In diesem Moment kehrte die Schwester zurück ins Zimmer. Sie beeilte sich dem Doktor, die aufgezogene Spritze zu überreichen. In Windeseile half sie ihm die Patientin ins Bett niederzudrücken und festzuhalten, damit er ihr das Medikament verabreichen konnte.

Trotz ihrer langen Ruhezeit hatte der Schock Ingrid übermenschliche Kräfte verliehen. Das Adrenalin, das durch ihren Körper pumpte, ermöglichte es ihr, sich gegen die beiden Helfer aufzulehnen. Gemeinsam gelangte es ihnen, die renitente Patientin zu überwältigen.

Ingrid spürte einen scharfen Einstich und im Anschluss, wie die Injektion warm durch ihren Arm rann. Die Stimme des Arztes schien mittlerweile aus der Ferne zu kommen.

„Dies wird Ihnen helfen, sich zu entspannen. Der Chefarzt wird Ihnen alles erklären. Alles wird wieder in Ordnung kommen!“

Ingrids Lider wurden immer schwerer. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, dass sie sich schlossen, doch schaffte sie es nicht. Das Beruhigungsmittel war stärker als sie. Allmählich driftete sie ab und schlief ein. Dass man ihren Körper wieder vorsichtig bettete, bekam sie gar nicht mehr mit.

Mitfühlend strich ihr der Arzt über die Stirn.

„Arme Frau! Ich bin nur froh, dass ich ihr nicht die Nachricht überbringen muss!“, sagte er zur Schwester, wobei er die Patientin ansah. Das bestätigende Nicken, der Helferin bekam er nicht mit. „Arme Frau“, wiederholte er nochmals und verließ das Zimmer.

Es war an der Zeit, den Chefarzt davon zu unterrichten, dass die Patientin aus Zimmer 17 endlich erwacht war.

 

Nach einer halben Stunde deutete ein lang gezogenes Stöhnen an, dass die Patientin wieder zu sich kam. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie, dass ein älterer Herr mit weißem Bart neben ihr stand.

„Bin ich im Himmel?“, fragte Ingrid orientierungslos und meinte es keineswegs ironisch.

„Nein! Sie sind im St Elisabeth Krankenhaus“, antwortete die Stimme sachlich. „Ich bin Dr. Otto, der Chefarzt.“

„Welche Ehre“, stöhnte sie sarkastisch und versuchte sich aufzusetzen, doch der Mediziner hielt sie davon ab. Erklärte ihr, dass es ratsamer war, liegen zu bleiben. Ingrid gehorchte und blickte ihn fragend an. „Was ist passiert?“

Dr. Otto zog den Stuhl ans Bett und setzte sich.

Ihm war die Schwere seiner Aufgabe bewusst. Dennoch war es ihm klar, dass es der Patientin nichts half, wenn er um den heißen Brei herumredete. Sie brauchte Gewissheit und wollte sie vollständig heilen, musste sie die Wahrheit erfahren.

„Sie hatten einen schweren Unfall gehabt“, fing er vorsichtig an und schaute sie dabei aufmerksam an.

Augenblicklich atmete Ingrid heftiger. Sie erinnerte sich.

„Was ist mit meiner Familie? Sind sie auch hier im Krankenhaus?“

„Nein“, entgegnete er ruhig und bemerkte, dass sie für einen Moment aufatmete. „Sie haben es leider nicht geschafft.“

Ingrid blickte ihn entgeistert an.

„Was?“, krächzte sie und spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen. Augenblicklich schoss das Tränenwasser ein, als sie die Nachricht verstand. „Meine Familie ist tot?“

Der Chefarzt nickte mitfühlend.

„Ihr Mann und ihr jüngster Sohn, waren auf der Stelle verstorben. Ihr ältester Sohn verstarb auf den Weg ins Krankenhaus. Es tut mir leid!“

Ingrid weinte.

Sie lag im Bett und schlug die Hände vors Gesicht. Die Nachricht hatte sie unvorbereitet und hart getroffen. Sie hatte mit einer derartigen Antwort nicht gerechnet. Der Chefarzt ließ ihr Zeit. Er bedrängte sie weder, noch teilte er ihr weitere Informationen mit.

„Kann ich sie sehen?“, flehte Ingrid mühevoll.

Bedauernd schüttelte der Arzt den Kopf.

„Das geht leider nicht. Sie sind bereits beigesetzt worden!“

Ingrid fühlte einen scharfen Stich im Herzen.

Erneut heulte sie auf. Es fiel ihr schwer eine Frage zu formulieren. Doktor Otto kam ihr zuvor.

„Ihr Schwiegervater hatte alles Notwendige in die Wege geleitet, schließlich war er in ihrem Testament als Bevollmächtigter genannt. Da wir keine Angaben darüber machen konnten, wann sie wiedererwachen würden, gaben wir unser Einverständnis.“

Obwohl eine Flut unangenehmer Neuigkeiten auf sie einströmte, fand Ingrid für einen Augenblick ihre Sachlichkeit wieder.

„Was meinen Sie damit, dass Sie nicht sagen konnten, wann ich wiedererwachen würde? Der Unfall, ist doch erst gerade passiert!“

Scharf zog Doktor Otto die Luft durch die Nase ein, bevor er antwortete.

„Der Unfall liegt bereits etwas länger zurück. Sie befanden sich in einem sehr kritischen Zustand. Noch am Unfallort, musste der Fuß abgenommen werden, anderenfalls hätte man sie nicht aus dem Fahrzeug befreien können. Nach der anschließenden Notoperation verbrachten sie die ersten beiden Wochen auf der Intensivstation. Es kam zu Komplikationen und wir mussten nochmals operieren. Für Ihren Körper war dies zu viel und sie fielen ins Koma.“

„Wie lange“, erkundigte sie sich mit zitternder Stimme.

„Sieben Monate“, antwortete er sachlich und sah sie aufmerksam an.

Ingrid starrte gegen die Zimmerdecke.

Viele Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, doch nur einer kristallisierte sich heraus, den sie laut aussprach.

„Ich bin schuld. Ich habe meine Familie umgebracht!“

„Das dürfen Sie nicht sagen. Es war ein Unfall. Es trifft sie keine Schuld!“

Er griff nach ihrer Hand, um ihr das Gefühl von Nähe zu vermitteln.

Ingrid schüttelte den Kopf.

„Wäre ich diesem Hund nicht ausgewichen, dann würden sie noch alle leben.“ Ingrid weinte bitterlich und fügte hinzu: „Ich habe das Leben meiner Familie für einen Hund geopfert.“

Der Arzt ließ sie weinen und hielt einfach nur ihre Hand.

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