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Author McNichol Geist Sprung Main 1[1615

Geist-Sprung

Die erste Liebe ist mystisch

 

Wie wird aus einem ganz normalen Teenager, mit ganz normalen Alltagsproblemen, ein mystisches Wesen?

Am ersten Schultag nach den Sommerferien ist Amy davon überzeugt, dass nichts Schimmers passieren könnte, als dass die jüngere Schwester Jana nun auch auf ihre Schule geht. Doch muss sie sich eines Besseren belehren lassen. An diesem Morgen erfährt sie, dass ihr Scharm Lukas, der bisher einen Jahrgang über ihr war, in ihre Klasse zurückgestuft wurde und somit ihr Mitschüler ist. Bei ihrem Versuch ihn zu beeindrucken, handelt sie sich einen Unterrichtsausschluss ein, der von ihren Eltern mit Hausarrest und Handyverbot geahndet wird. Damit sie dennoch eine Chance bei Lukas hat, setzt sie ihre Freundin Lena auf ihn an. Diese soll ihn davon überzeugen, dass Amy das coolste Mädchen in der Klasse ist. Bei einem Gespräch mit Lukas gerät Lena in Panik und tischt ihn ein unheimliches Lügenmärchen auf; sie behauptet das Amy und sie Geisterjägerinnen sind, da Lukas sein Interesse an dem Okkultem erwähnte. Kurzum lädt er sich zur nächsten Geisterjagd ein. Da Amy ihn weder vergraulen noch auf dieses ungewöhnliche Date verzichten will, sagt sie zu. Gemeinsam begeben sie sich auf Geisterjagd im alten verfallenen Krankenhaus der Stadt. Dort kommt es zu einem Unfall, der Amys Existenz gefährdet.Doch ausgerechnet Lukas erweist sich als Amys letzte Hoffnung…

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Covergestalltung: rdhbookcoverdesigns

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Verliebter Teenager

 

Sonnenschein. - Wie hätte es auch anders sein können?

Die verregneten Sommerferien waren vorüber. Wie zum Hohn startete das neue Schuljahr mit strahlendem Himmel. Und dies bereits um sieben Uhr morgens.

Verschlafen öffnete Amy die Augen und blinzelte in den gelblichen Ball am Himmel, den sie die gesamten Ferien über nur selten zu Gesicht bekommen hatte und der ihr ausgerechnet jetzt durch das geöffnete Fenster ins Gesicht schien.

Unverschämtheit.

Zum zweiten Mal ertönte der Weckruf der Mutter.

Dem fröhlichen Klang nach zu urteilen, spielte sie wieder die Über-Mama. Amy verdrehte die Augen und zog missmutig die Bettdecke über den Kopf. Sie hatte weder die notwendigen Ambitionen sich zu erheben, noch wollte sie aufstehen. Allerdings machte die dritte Ermahnung der Mutter deutlich, dass diese nicht bereit war auf die Gefühle und Launen ihrer Tochter Rücksicht zu nehmen. Also schwang sich Amy doch müde aus dem Bett.

Einen prüfenden Blick durchs Zimmer, verriet dass die kleine Schwester bereits auf war. Amy machte sich erst gar nicht die Mühe sich umzuziehen. Wie sie war, schlurfte sie in die Küche.

Die Familie saß bereits am Frühstückstisch.

Wie erwartet, rannte die Mutter, einem aufgescheuchten Huhn gleich, durch den Raum und versuchte jedem eine Extraportion Rühreier aufzudrängen.

Amy schüttelte den Kopf und fragte sich, woher diese Frau am frühen Morgen die Energie nahm, so aufgedreht zu sein. Nicht nur, dass sie ein vollständiges Frühstücksbuffet zu bereitet hatte, dass jedem Bistrobesitzer vor Neid erblassen ließ, sondern sie war bereits ausgehfertig. Gut gekleidet und geschminkt.

„Guten Morgen, Schlafmütze. Eier!?“

Zur Unterstreichung ihre Worte hielt sie der Tochter die Bratpanne entgegen.

„Morgen, Mama. Nein Danke!“

Wie gewöhnlich ignorierte diese die Ablehnung und schaufelte vor sich hin summend eine Portion Rühreier auf Amys Teller. Amy verkniff die Augen und setzte sich seufzend auf einen Stuhl.

„Good Morning, Daddy! “, begrüßte sie am Tisch sitzend ihren Vater.

„Morning, Sunshine! “, warf er freundlich zurück und lugte für einen kurzen Moment hinter seiner Zeitung hervor, um direkt wieder dahinter zu verschwinden.

Amy hatte schon immer den Verdacht gehabt, dass er nur vorgab die Zeitung zu lesen, um so vor seiner Frau Ruhe zu haben. Dafür brachte seine Tochter nicht nur volles Verständnis auf, sondern auch Neid. War Mama so aufgedreht wie heute, dann ging sie jedem auf den Nerv. Außer…

„Morgen, Schwesterchen. Bist du auch so aufgeregt wie ich? Schließlich ist heute mein erster Schultag an deiner Schule“, sie lachte kurz und verbesserte sich sofort. „Ach nein, ist ja ab heute auch meine Schule. Ich finde es so cool, dass wir endlich in dieselbe Schule gehen. Ist das nicht toll!“

Amy verzichtete auf einen Kommentar und vertilgte stattdessen ihre Rühreier.

Dies war für alle Beteiligten die angenehmere Lösung. Oft genug hatte Amy, zum Leidwesen ihrer Eltern, ihre unverblümte Meinung zu diesem Thema kundgegeben. Mit Inbrunst hatte sie sich gegen die Versetzung der jüngeren Schwester auf ihre Schule zu Wehr gesetzt. Amy war der Meinung, dass die Schule nicht groß genug für zwei Mitglieder dieser Familie war. - Doch hatte jemand auf ihre Argumente gehört?

Wäre dem so gewesen, dann würde Jana heute auf eine andere Schule gehen. Es war nicht so, dass Bildungsanstalten in der Stadt Mangelware waren. Umso bitterer war es für Amy, dass die Nervensäge ausgerechnet auf ihre gehen musste. Da sie ihr Schicksal nicht mehr ändern konnte, war sie gezwungen gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie würde einfach reagieren wie immer, indem sie die Existenz ihrer Schwester ignorierte. Jana sollte bloß nicht glauben, dass sie sich ungestraft in den Pausen an ihre Clique hängen konnte.

Um sicherzustellen, dass die Kurze auch wirklich verstand, passte Amy den Moment ab, in dem die Mutter zur Kaffeemaschine tänzelte.

Verschwörerisch beugte sie sich zur Schwester herüber und raunte leise.

„In der Schule kennen wir uns nicht. Du wirst auf keinen Fall in den Pausen zu mir kommen. Meine Freunde und ich sind keine Babysitter.“

Jana zeigte sich unbeeindruckt.

„Habe ich nicht nötig. Meine Freundin Sophie wird heute mit mir eingeschult. Wenn wir Glück haben, dann kommen wir in dieselbe Klasse.“

Amy war es egal, solange ihr das kleine Scheusal vom Leib blieb.

„Amy, kleide dich an. Es wird Zeit, dass wir in die Schule fahren.“

Erstaunt blickte sie die Mutter an. Offenbar hatte diese vor heute mit in die Schule zu kommen. Konnte es noch peinlicher werden, als dort mit der gesamten Familie aufzutauchen? Dennoch gehorchte sie. Widerrede war zwecklos. Wenn sich Mutter etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es sowieso kein Entrinnen.

Amy verschwand auf ihr Zimmer.

Die Garderobe, die sie sich gestern Abend sorgfältig zusammengestellt und herausgelegt hatte, passte nicht zu diesem herrlichen Wetter. Wollte sie sich nicht lächerlich machen, dann war sie gezwungen ihr Outfit noch einmal zu überdenken. Dummerweise konnte sie sich nicht viel Zeit dabei lassen. Rasch entschloss sie sich für einen Minirock und eine passende Bluse. Selbstverständlich würde diese in den Rock gesteckt und züchtig zugeknöpft getragen. Doch, sobald ihre Eltern aus ihrer Sichtweite sein würden, dann verwandelte sich die Bluse in ein bauchfreies Top. Die Knöpfe würden korrespondierend zum Busenansatz geöffnet. Amy wusste, dass ihre Mama diesen Stil nicht schätzte.

Auf eine Konfrontation legte das Mädchen keinen wert. Wozu auch?! - Was Mama nicht wusste, machte sie nicht heiß. Amy legte ein dezentes Make-up auf und hoffte, dass sie heute aufgrund des Zeitmangels damit durchkommen würde. Ihre Eltern zeigten sich nie begeistert, wenn ihre vierzehnjährige Tochter geschminkt herumlief.

Heute kam sie damit durch. Allerdings musste sich Amy einem missbilligenden Blick gefallen lassen.

Die Mutter trieb alle erneut zur Eile an.

Offensichtlich waren ihre Eltern nicht die einzigen, die unter irrationalen Trennungsängsten litten und somit die Neustarter begleiteten.

Bei so viel Gefühlsduselei wurde Amy schlecht. Es blieb für sie nur zu hoffen, dass ab morgen alles beim Alten war und sie normal mit dem Fahrrad in die Schule fahren konnten.

Auf dem Schulparkplatz herrschte bereits das absolute Chaos. Das den Hausmeister dazu zwang, die normalerweise von ihm so gehegte Wiesenfläche zum Parken freizugeben. Beflissen sorgte er dafür, dass die ankommenden Autos ordnungsgemäß abgestellt wurden. Wie ein gestrenger Verkehrspolizist regelte er, die stetige Flut der ankommenden Fahrzeuge.

Glücklicherweise wurde auch ihnen rasch einen Abstellplatz zugewiesen.

Amy konnte es nicht abwarten, endlich aus dem Wagen zu steigen und zu verschwinden. Zum einen hatte sie kein Interesse mit ihrer Familie gesehen zu werden und zum anderen konnte sie sich in dieser Aufmachung nicht zeigen. Ihrer Mutter missfiel es sehr, dass sich die älteste Tochter von ihnen trennen wollte. Amy ließ sich nicht in ihre Karten schauen und schlug ihre Mutter mit ihrem eignen Pflichtbewusstsein, in dem sie behauptete:

„Ich habe keine Zeit, schließlich muss ich in meine eigene Klasse. Ich kann doch schlecht zum Schuljahresbeginn zu spät zum Unterricht erscheinen.“

Glücklicherweise fielen ihre Eltern auf den Bluff herein.

„Schätzchen, wie kommen wir denn in Janas Klasse?“

Amy blieb gelassen.

„Folge doch einfach den anderen Eltern“, rief sie im Weggehen.

Kaum war sie außer Sichtweite zog sie ihre Bluse aus dem Rock und verwandelte ihr Outfit, in ein modisches bauchfreies.

Rasch griff sie in die mitgeführte Tasche und zog einen Lippenstift in einer intensiveren Farbe hervor. Der zart rosafarbene Mund wurde mit einer dunkleren Farbe überschminkt. Sollte sie so von ihrer Mutter erwischt werden, dann war ihr ein Donnerwetter gewiss.

Zielstrebig machte sich Amy auf den Weg.

 

 

Äußerlich hatte sich für Amy nichts verändert. Der Klassenraum befand sich nach wie vor auf derselben Etage. Beim Betreten des Gebäudes nahm sie wie immer unterschwellig den Geruch derselben langweiligen Mischung aus Industriereiniger und Desinfektionsmittel war. Das vorherrschende leichte Chaos war normal für den ersten Schultag.

Amy wusste dies aus Erfahrung. Selbstbewusst schritt sie die Treppe hinauf.

Erster Flur links, zweite Tür rechts. Dort lag ihr Klassenzimmer.

Die meisten ihrer Klassenkameraden waren bereits eingetroffen und verteilten sich lässig im Raum. Einige saßen, andere standen in Grüppchen herum.

Der erste Tag nach den großen Ferien war immer etwas Besonderes. Selbst im Zeitalter der Sozialmedien und des ununterbrochen elektronischen Kontaktes, ging nichts über den Genuss die Gerüchte persönlich unter die Zuhörer zu bringen oder sich Neue erzählen zu lassen.

Lange hatte es in der Gerüchteküche gebrodelt. Heute würde sich endlich herausstellen, ob etwas an ihnen dran war. Die gegenwärtige Aufregung galt dem mutmaßlichen Sitzenbleiber. Jeder hatte irgendwo gehört, dass es in diesem Jahr einen gab. Doch war weder die Identität bekannt noch in welcher der drei Klassen dieser Jahrgangsstufe er eingeteilt war. Sitzenbleiber waren an dieser Schule eine Seltenheit und daher etwas Außergewöhnliches und damit Besonderes.

Amys Bildungsanstalt sah sich, aufgrund der Pisastudie dazu angehalten, einen hohen Standard zu halten. Nicht-Versetzungen waren sowohl schlecht fürs Image als auch für die Statistik und daher nicht gern gesehen. Es blieb nichts unversucht den Wackelkandidaten das Klassenziel erreichen zu lassen. Der bedauernswerte Schüler hatte sich eine Vielzahl von Nachprüfungen zu unterziehen.

Bestand er diese trotzdem nicht, dann war er entweder hoffnungslos dämlich oder ultracool.

Schließlich durfte man nicht außer Acht lassen, dass einem die Eltern auch noch im Nacken saßen. Und ein jeder an dieser Schule konnte sich ausmalen, dass das kein Zuckerschlecken war.

Dies erklärte, das inoffizielle hohe soziale Ansehen eines Sitzenbleibers. Zusätzlich kam allerdings noch hinzu, dass der Neuzugang ein bis zwei Jahre älter war. Was den Neuen noch wesentlich attraktiver machte. Sollte es einem gelingen sich mit demjenigen anzufreunden, war es sehr wahrscheinlich in dessen alte Clique eingeführt zu werden. Somit verkehrte man mit den „Großen“. Dies würde dem Glücklichen automatisch, nicht nur innerhalb der eignen Jahrgangstufe, einen wesentlich höheren gesellschaftlichen Stellenwert verschaffen. Somit war die ausgelöste Hysterie bezüglich des mutmaßlichen Neuen verständlich.

Lena löste sich von ihrer Gruppe und fiel Amy mit einem breiten Grinsen in die Arme. Die beiden Freundinnen taten so, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen. Dabei waren sie gestern noch zusammen im Kino.

„Na, ist das Scheusal auch hier?“

Eigentlich eine überflüssige Frage, doch Lena hatte sie einfach stellen müssen.

Amy nickte und berichtet haarklein von den Grausamkeiten des bisherigen Morgens. Mitfühlend zog Lena eine Schnute. Genauso rasch wie sie ihre Sympathie ausdrückte, wechselte sie das Thema.

„Hast du schon gehört, wer der Neue sein soll?“

Amy schüttelte den Kopf und zuckte desinteressiert mit den Schultern.

Mit einem Male lag ein fiebriger Ausdruck in Lenas Blick und sie klatschte vor Aufregung in die Hände, als sie den Namen des Betreffenden nannte.

„Lukas!“

Amys Augen wurden groß.

„Lukas! Bist du sicher?“

Es war ihr unmöglich ihre Überraschung und Begeisterung zu vertuschen.

Lena nickte beflissen.

„Die Information kommt von Leonie. Wie du weißt, arbeitet ihre Mutter im Schulsekretariat. Und die muss es wissen, schließlich kümmert sie sich um den ganzen Schriftkram. Tja, und demnach bekommen wir Lukas in unsere Klasse.“

Amy konnte ihr Glück nicht fassen.

Seit knapp einem Jahr schmachtete sie Lukas aus sicherer Entfernung an. Als damalige Siebtklässlerin war es ihr unmöglich Kontakt zu ihm aufzunehmen. Schließlich war er älter und ultracool.

Lukas sah ausgesprochen gut aus und hatte einen sportlichen Körper. Außerdem umgab ihn eine geheimnisvolle Aura. Er war der Typ Junge, vor dem einen die Mütter immer warnten, aber dem man gerade deshalb unbedingt haben wollte.

 Dass er jetzt ausgerechnet in Amys Klasse kam, warf ganz andere Möglichkeiten für sie auf. Wenn sie es geschickt anfing, dann könnte zwischen ihnen eine Freundschaft erwachsen.

Sofort geriet Amy ins Träumen und stellte sich vor, wie fantastisch es wäre mit ihm zu gehen. Lukas war nicht zu vergleichen mit den harmlosen Jungs aus ihrer Klasse.

Das ausgerechnet er das Klassenziel nicht erreicht hatte, musste eine tiefere Bedeutung haben. Amy konnte sich nicht vorstellen, dass er dumm oder gar faul war. Vermutlich war er auf sie aufmerksam geworden und sehnte sich ebenfalls nach ihr. Die einzige Möglichkeit sich über die Standesgrenzen hinwegzuheben war sitzenzubleiben. Amys Begeisterung und Ehrfurcht für seine heldenhafte Tat wuchs. Wie musste sie ihn beeindruckt haben, dass er zu derartigen Opfern bereit war?

Für sie bestand kein Zweifel daran, dass Lukas nur wegen ihr hier war.

Das Mädchen wurde immer unruhiger. Suchend schaute sie sich um. Weshalb war er noch nicht hier? Möglicherweise würde er mit der Klassenlehrerin kommen. Ein rascher Blick aufs Handy Display verriet, dass die Schulglocke in einigen Minuten klingelte.

Amy wusste, was sie bis dahin zu tun hatte. Um ihren Schwarm zu gefallen, würde sie ihr Make-up auffrischen. So, wie sie jetzt aussah, wollte sie ihm auf keinen Fall unter die Augen treten. Wären ihre Eltern in Bezug auf ihre äußere Erscheinung nicht so verbissen altmodisch, könnte Amy wesentlich mehr aus ihrem Typ machen. Doch so was konnte sie nur heimlich und hinter ihrem Rücken ausprobieren. Wenn die beiden wüssten, wie unheimlich anstrengend und zeitaufwendig, so eine Heimlichtuerei war.

Ihre Eltern waren so uneinsichtig. Amy wollte doch nichts weiter als ihrem Alter entsprechend, und nicht wie ein Kleinkind, behandelt werden. Sie war mittlerweile schon fast eine Frau. Zumindest war sie mit ihren vierzehn Jahren seit langem ein Teenager. Eine Jugendliche, die für sich denken konnte und nicht gezwungen sein sollte sich überholten Moralvorstellungen zu unterwerfen.

Amy hatte diese ewigen Streitereien satt. Wieso konnten sie nicht einsehen, dass sie genau wusste, was sie tat. Anstatt Anerkennung bekam sie von ihren Eltern zu hören, dass diese nur ihr Bestes wollten und Amy noch nicht verstand, welch eine Signalwirkung ein aufwendiges Make-up hatte.

Amy konnte darüber nur den Kopf schütteln. Was sollte „Signalwirkung“ überhaupt bedeuten?

Für sie stand fest, dass es pure Eifersucht war, die die Erwachsenen so handeln ließ. Schließlich waren sie es, die einem bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieben, dass die Jugendzeit die beste Zeit im Leben darstellte. Doch wie sollte man sein Teenagerdasein genießen, wenn permanente Vorschriften einen erdrückten?

Ein Junge wie Lukas ließ dies jedenfalls nicht mit sich machen. Amy sah ihn als jemanden, der unbeirrt seinen eignen Weg ging und selbst, wenn dies Unannehmlichkeiten für ihn bedeutete. Der Typ war bereit für ihre Liebe Opfer zu bringen - sogar sitzenzubleiben.

Amy wollte ihm beweisen, dass sie diesen Aufwand wert war. Rasch griff sie nach ihrer Tasche und rannte zur Mädchentoilette, um ihr Make-up komplett zu überarbeiten.

Leider blieb nicht mehr ausreichend Zeit.

Es schellte zur ersten Unterrichtsstunde.

Amy hatte die Zeit vergessen.

Zu konzentriert war sie auf die Perfektionierung ihres Make-ups. Was aufgrund der flackernden Neonröhrenbeleuchtung in diesem Raum nicht einfach war. Sie hätte längst zur Klasse zurückgehen müssen, um pünktlich zu sein. Dummerweise war sie erst mit einem Auge fertig. So konnte sie unmöglich vor ihrer Klasse und vor allem vor Lukas erscheinen. Amy musste sich beeilen, versuchte aber dennoch so präzise, wie möglich zu bleiben. Dies war unter den gegebenen Umständen schon schwierig genug, doch bei diesen schlechten Lichtverhältnissen stellte es eine Herausforderung dar. Erst als sie zufrieden mit ihrem Aussehen war, verließ sie den Waschraum und rannte durch den menschenleeren Flur.

Ein erneuter schneller Blick aufs Handy Display verriet ihr, dass sie bereits fünfzehn Minuten vom Unterricht verpasst hatte. Vor der Tür bemühte sie sich ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sie richtete noch einmal rasch die Haare und klopfte sachte an, bevor sie ohne Aufforderung die Tür öffnete.

Alle Augenpaare richteten sich auf den Eindringling.

Die anfängliche Stille wurde durch ein donnerndes Gelächter abgelöst.

Wie angewurzelt blieb Amy im Türrahmen stehen und verstand nicht, weshalb die Klasse so ausgelassen reagierte.

Obwohl sie fieberhaft überlegte, fand sie keinen Grund für das Benehmen ihrer Klassenkameraden.

Langsam realisierte Amy, dass man über sie lachte.

Es war ein gehässiges Gelächter und ließ keinen Zweifel daran, dass man Amy auslachte. Besonders hart traf es die junge Schülerin, dass ausgerechnet Lukas ins Gelächter mit einstimmte. Amy wünschte sich in diesem Moment, dass der Erdboden sie verschluckte.

„Das reicht! Kriegt euch wieder ein, so witzig ist es auch nicht, sondern eher traurig.“, rief die Klassenlehrerin Frau Gelfort, ihre Rasselbande wieder zur Ordnung. „Amy, könntest du mir bitte mal, deinen Auftritt erklären.“

Amy verstand nicht. Die Situation war ihr unangenehm. Nichts war mehr von ihrer selbstsicheren Art zu spüren.

In ihrer Verunsicherung kam nur ein stotterndes, „Ich…, also ich… habe mich nur…“, über ihre Lippen.

„...im Dunkel geschminkt!“ Ergänzte jemand unerkannt aus der Menge und löste damit wieder einen wahren Gelächtersturm aus.

Wütend schlug Frau Gelfort mit der flachen Hand aufs Pult und langsam kehrte wieder Ruhe ein.

Energisch blickte sie Amy an.

„Geh und wasch dir das Zeug aus dem Gesicht. So will ich dich nicht im Unterricht haben. Wir werden uns nach der Stunde noch einmal über deinen Auftritt unterhalten.“

In ihrem gesamten Leben hatte sich Amy noch nie so gedemütigt gefühlt, wie in diesem Augenblick.

Der Schleier, der sich vor ihren Augen bildete, zeugte davon, dass sie den Tränen nahe war. Das war das letzte, was sie wollte. Vor dieser Meute weinen. Diese Genugtuung wollte sie ihnen nicht verschaffen.

Langsam drehte sie sich um, öffnete die Tür und vernahm das gehässige, „…das haben wir im Internet für die Nachwelt erhalten.“

Amy hatte die Stimme nicht erkannt. Mittlerweile drang alles um sie herum, wie durch einen Filter zu ihr vor. In ihrem Kopf drehte sich alles. Von außen lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür und schaffte es nicht mehr ihre Tränen zurückzuhalten.

Wut und Enttäuschung bahnten sich ungehemmt ihren Weg.

Es gab kein zurück. Amy wusste, dass sie sich ihren ersten und alles entscheidenden Auftritt bei Lukas versaut hatte.

Was würde er jetzt über sie denken?

Mit der Demütigung, dass alle anderen über sie hemmungslos gelacht hatten, hätte sie durchaus leben können. Doch zu erkennen, dass ausgerechnet ihr Schwarm ebenso ausgelassen mitmachte, war zu viel für sie. Sie fühlte sich so unheimlich klein und grotesk. Niemals zuvor hatte sie einen derartigen Schmerz in ihrem Herzen gespürt. Es fühlte sich an, als hätte sich eine Faust darumgelegt, um es mit unnachgiebigem Griff zu zerquetschen. Das Atmen fiel ihr schwer.

Erneut liefen die Tränen über ihre Wangen, als Amy bewusstwurde, dass Lukas sie verraten hatte. Diese Erkenntnis war schlimmer als die bisher erlebte Erniedrigung.

Das Selbstmitleid wandelte sich in Wut.

Entschlossen wischte sie sich die Tränen ab. Dass ihr gesamtes Make-up mittlerweile zu einer unansehnlichen Masse zusammengelaufen war, merkte Amy nicht. Sie wusste nur, dass sie nicht länger vor dieser Tür verharren konnte. Zunächst langsam und dann immer rascher lief sie durch den Gang.

Überraschenderweise befand sich jetzt vor der Mädchentoilette ein Hinweisschild. Der Hausmeister brachte dies immer an, um Schülerinnen über seine Anwesenheit für Reparaturmaßnahmen zu informieren. So stellte er sicher, dass es nicht zu peinlichen Situationen kam.

Amy überlegte nicht lange und lief weiter in die untere Etage.

Dort vor dem Waschraum angekommen öffnete sie die Tür und verschwand unbemerkt in dem Zimmer. Dieser Raum war eindeutig heller beleuchtet als der andere. Erst jetzt entsann sich Amy in welchem Zwielicht der andere Raum getaucht war.

Sie blickte in den Spiegel und erschrak über ihre eigene Reflektion. Ihr Make-up war mittlerweile verwischt.

Lebhaft konnte sie sich vorstellen wie übertrieben sie sich, dank der schlechten Lichtverhältnisse auf dem oberen Mädchenklo, geschminkt haben musste. Was sie im Kunstlicht des Waschraums für ein dezentes Make Up hielt, hatte sich bei Tageslicht in die Bühnen-Aufmachung von Marilyn Manson gewandelt.

Amy fühlte sich als Idiotin. Wie hatte ihr ein derartiger Anfängerfehler unterlaufen können?

Lukas musste sie inzwischen für einen Loser halten. Doch war das Schlimmste für sie, dass er sich über sie lustig gemacht hatte. Er hatte seine erste Bewährungsprobe vermasselt. Lukas hätte aufstehen und Amy gegen die Meute verteidigen müssen.

Sein Verhalten ergab für Amy keinen Sinn.

Weshalb wäre er, denn sonst sitzengeblieben, wenn nicht um ihr nahe zu sein? So demonstrierte man seine Liebe nicht.

Doch eventuell gehörte das zu Lukas Plan.

Schließlich hatte er einen gewissen Ruf, den er wahren musste. Da konnte er sich keine Schwachheiten erlauben. Und schließlich war es ihre eigene Schuld, dass sie sich in diese Situation gebracht hatte. Möglicherweise war ihr misslungener Auftritt letztendlich doch nicht so schlimm, wie sie befürchtete.

So konnte Lukas aus erster Hand sehen, dass sie auch eine Rebellin war.

 

 

Amy hatte es nicht eilig in die Klasse zurückzukehren. Sie musste sich erst einmal fangen.

Zuviel war an diesem Morgen bereits auf sie eingestürzt, um einfach damit klarzukommen. Es belastete sie nicht wirklich, dass der Auftakt mit Lukas etwas danebengegangen war. Sicherlich hatte sie sich unfreiwillig zur Witzfigur gemacht. Das war zwar dumm, aber nicht unbedingt das Ende der Welt.

Amy ging sogar davon aus, dass sie ihn durch ihren unbeabsichtigten dramatischeren Auftritt durchaus beeindruckt haben könnte. Die bisherigen Begegnungen im letzten Schuljahr waren ausschließlich auf Augenkontakt, während der Pausen beschränkt gewesen. Zum ersten Mal hatte er Gelegenheit bekommen Amy in ihrem Element zu erleben. Ihm musste klar sein, dass sie keine Langweilerin oder gar Streberin war. Welcher Junge würde nicht auf ein Mädchen abfahren, das sich gegen die Regeln stellte? Vor allem, wenn er einen so coolen Ruf, wie er hatte.

Schon allein die Tatsache, dass sie bauchfrei erschienen war, verstieß gegen die bestehende Kleiderregelung an der Schule. Und dass sie sich nach dem Unterricht auch noch bei Frau Gelfort melden musste, sollte ihm deutlich machen, dass sie eine harte Nuss war.

Amys Laune besserte sich mittlerweile. Ihrem Trübsinn war Euphorie gewichen. Neuer Tatendrang beseelte sie. Amy wusste genau, wie sie die Gunst der Stunde zu nutzen hatte, um ihr Ansehen bei Lukas zu heben. Sie wollte ihm beweisen, dass sie eine ebenbürtige Partnerin war.

Ein warmes Gefühl durchflutete sie.

Amy spürte, wie sich ihre Liebe zu dem Jungen regenerierte und verstärkte. Sie würde nichts unversucht lassen so schnell wie möglich seine Freundin zu werden. Sie war überzeugt, dass es nicht lange dauerte, bis er sie fragte.

Amy machte sich daran ihr Gesicht abzuwaschen und ein normales Make-up aufzulegen.

Erst als sie mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden war ging sie zurück.

Zwar war es ihr peinlich, wieder in die Klasse eintreten zu müssen, doch bemühte sie sich gleichgültig zu wirken. Einige wagten es immer noch zu kichern, als sie den Raum betrat. Langsam wanden sich die Augenpaare von ihr ab. Lukas hatte nur kurz zu ihr herübergeschaut.

Schier gelassen setzte sie sich neben Lena und tat so als ob nichts geschehen wäre. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie innerlich vor Wut kochte.

Amy interpretierte Lukas Verhalten als ein weiteres Zeichen dafür, dass er die Rolle des Unnahbaren aufrechterhalten wollte. Es wäre ja auch zu unpassend gewesen, wenn sich Lukas entgegen seinem Image verhalten hätte. Nein, sie bewunderte seine Beharrlichkeit und die Fähigkeit sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Er war einfach anbetungswürdig.

Kaum hatte sie sich gesetzt ertönte die Schulglocke. Die Stunde war zu Ende.

Augenblicklich stieg der Lärmpegel in der Klasse an. Was dazu führte das Frau Gelfort ihre letzten Anweisungen schreien musste. Erst als davon auszugehen war, dass ungefähr ein Drittel der Klasse die Aufgabe für morgen verstanden hatte, schnappte sie sich ihre Tasche und ging. Allerdings verließ sie nicht sofort den Raum, sondern stoppte an Amys Tisch.

„Kannst du mir bitte verraten, was heute Morgen in dich gefahren ist?“, erkundigte sich die Lehrerin, während sie das Mädchen neugierig anschaute und echtes Interesse in ihrer Stimme mitklang.

Amy fühlte sich von ihrem Entgegenkommen ermutig die Wahrheit zu sagen. Sie wollte gerade gestehen, dass alles nur ein dummes Versehen war und sie nicht beabsichtigt hatte eine Provokation herbeizuführen. Doch genau in diesem Moment sah Lukas wieder zu ihnen herüber.

Der kurze Moment, indem sich ihre Blicke trafen, reichte aus, um in Amy die Befürchtung zu wecken, dass sie ihre verbleibende Chance bei ihm verspielte, wenn sie jetzt einlenkte.

Amy wurde unsicher.

Den Druck, dem sie sich selbst aussetzte, war zu groß. Nichts hatte in dieser Situation mehr Gewicht als den Eindruck, den sie auf Lukas machte. Amy war nicht mehr in der Lage rational zu denken, alles drehte sich nur um ihn. Also reagierte sie in der für sie einzig logischen Weise, um die Situation zu retten.

Die Schülerin schluckte, die ihr auf der Zunge liegende erklärende Entschuldigung herunter und entgegnete ihrer Lehrerin mit einem schnippischen Unterton, dass sie überhaupt nicht verstand, weshalb diese sich so aufspielte.

Kaum war Amy der Satz über die Lippen gekommen, merkte sie was sie angerichtet hatte. Dummerweise gab es jetzt kein zurück. Anstatt Frau Gelfort durch eine Geste anzudeuten, dass ihr die Äußerung leidtat, zog Amy eine Schnute und verstärkte dadurch die Provokation.

Obwohl dieses Benehmen eine Ausnahme war, konnte sie die Unverschämtheit nicht einfach auf sich beruhen lassen. Die Beleidigung hatte Frau Gelfort nicht nur sehr verletzt, sondern, war auch noch von den meisten der Schüler gehört worden. Die junge Lehrerin war angehalten einen derartigen Vorfall der Schulleiterin zu melden. Dennoch lag es nicht in ihrer Absicht die Schülerin zu bestrafen.

Die Pädagogin wollte nur herausfinden, was in das Mädchen gefahren war. Zumal das Verhalten mehr als untypisch für sie war. Wohlwollend ging die Lehrerin noch davon aus, dass ausschließlich Hormone am veränderten Benehmen schuld waren. Schließlich schätzte sie Amy, als gute und begeisterungsfähige Schülerin.

Dass sich der Teenager von dieser derben Seite zeigte, passte überhaupt nicht zu ihr.

Erneut räumte sie Amy die Möglichkeit ein, sich bei ihr in aller Form zu entschuldigen.

Obwohl die Klasse mittlerweile in einem anderen Raum hätte wechseln müssen, wollte niemand, die sich angebahnte Machtprobe versäumen.

Amy war es unangenehm, dass sich wieder alle Augen auf sie gerichtet hatten, auch Frau Gelfort schaute sie auffordernd an.

Was sollte sie nur tun?

Auf der einen Seite erkannte sie, dass es wesentlich klüger war sich zu entschuldigen, um mit einer Ermahnung davon zu kommen. Doch auf der anderen Seite, glaubte sie ausnahmslos daran, dass sie Lukas nur durch ihr rebellisches Aufbegehren beeindrucken konnte.

Sie ignorierte ihre innere Stimme und zeigte sich uneinsichtig. Seine Blicke gaben ihr die Bestätigung, die sie brauchte. Trotzig blieb sie sitzen, rollte den Rücken ein, verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und legte den Kopf schief auf die Seite. Mit einem frechen Ausdruck in den Augen, schüttelte sie energisch den Kopf und verweigerte eine Entschuldigung. Und um ihren Standpunkt zu verstärken, wiederholte sie nochmals die Beleidigung.

Frau Gelfort zeigte sich schockiert.

Sie konnte nicht glauben, dass dieses liebe Mädchen nicht nur zu dieser Dreistigkeit fähig war, sondern diese auch noch wiederholte. Nun reichte es ihr. Ihre Geduld war am Ende.

Die Fronten hatten sich verhärtet, so dass ihr keine andere Möglichkeit blieb, als Amy zur Schulleiterin zu bringen. Auf dieses massive Fehlverhalten konnte die Lehrerin nicht mit einer ihrer üblichen halbherzig gemeinten Rügen reagieren. Wollte sie nicht ihren bisherigen guten Einfluss auf die Klasse und ihr Gesicht verlieren, war sie gezwungen energisch durchzugreifen, zumal ihr Amy durch die Verwendung eines unflätigen Schimpfwortes keine andere Option offenließ und sie darüber hinaus bezüglich der Disziplinierungsmaßnahmen sehr eingeschränkt war.

Frau Gelfort wies Amy an mit ihr zur Direktorin zu gehen.

Obwohl ihr selbst nicht ganz wohl dabei war, handelte die Lehrerin nun nur noch gemäß den Vorschriften. Diese besagten, das massive Regelverstöße oder Respektlosigkeiten gegenüber dem Lehrkörper, umgehend der Schulleitung gemeldet werden musste.

Seit drei Jahren war sie nun an dieser Schule und hatte ein derartiges Verhalten von keinem der Schüler erlebt. Sie waren alle keine Engel und konnten sehr lebhaft und ausgelassen sein, manchmal gar frech und vorlaut, allerdings hat es niemand gewagt, ihr eine derartige Ungeheuerlichkeit zu entgegnen.

Die Lehrerin hoffte darauf, dass die erfahrene Schulleiterin den Grund für die drastische Wandlung herausbekam. Irgendetwas musste während der Ferien geschehen sein, dass sie sich dermaßen uncharakteristisch verhielt.

Amy überspielte ihre Verunsicherung.

Erst als Frau Gelfort mit der Hand zur Tür deutete, wurde ihr bewusst was sie sich eingebrockt hatte. Sie fühlte sich keineswegs mehr wohl in ihrer Haut. In ihrem gesamten Leben war sie nie in derartige Schwierigkeiten geraten.

Zwar war sie weit davon entfernt eine Musterschülerin zu sein, doch war sie keine Rebellin. Mittlerweile fragte sie sich, ob Lukas den gesamten Ärger wert war, den sie gleich bekam. Amy war nicht erpicht darauf zu erfahren, was sie im Rektorzimmer erwartete. Frau Klusmann war eine Direktorin der alten Schule. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie stand kurz vor ihrer Pensionierung.

Der Weg zum Büro wurde schweigend zurückgelegt. Frau Gelfort hatte kein Interesse an einer weiteren Konversation. Amy war dies Recht. Ihre innerliche Unruhe nahm mit jedem Schritt zu. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Doch leider gab es jetzt kein Zurück mehr. Die Chance hatte sie ungenutzt an sich vorüberziehen lassen. Sie glaubte nicht, dass sich Frau Gelfort umstimmen ließ, würde sie versuchen sich zu erklären. Amy machte sich mittlerweile große Vorwürfe. Sie dachte wieder klarer, nachdem sich Lukas nicht mehr in ihrer unmittelbaren Umgebung befand. Amy erkannte, dass ihre Aussichten nicht rosig waren.

Hatte sie erst einmal das Donnerwetter von Frau Klusmann überstanden, musste sie sich dem ihrer Eltern stellen. Amy war nicht so naiv anzunehmen, dass man ihre Erziehungsberechtigten über diesen Vorfall nicht informieren würde. Möglicherweise bekam sie sogar einen Blauen Brief nach Hause.

Dem Mädchen wurde schlecht.

Sie hatten die Tür erreicht.

Frau Gelfort verlor keine Zeit und klopfte energisch an und folgte der Aufforderung einzutreten.

Von Amys vorlauter Art war nichts mehr zu spüren. Entmutigt schob sie sich in den Raum und traute sich nicht den Blick vom Fußboden zu wenden. Sie wollte ihren Scharfrichter nicht in die Augen blicken müssen.

„Amy? Was machst du denn hier?“, kam es ebenso verwundert wie empört.

Das Mädchen zuckte, wie unter einem Stromschlag zusammen. Das Blut verschwand ihr aus dem Gesicht und gleichzeitig rutschte ihr das Herz in die Hose. Amy traute sich kaum die Sprecherin anzusehen, doch sie brauchte die visuelle Bestätigung. Zu ihrem absoluten Horror saßen ihre Eltern im Büro der Direktorin.

Das Mädchen hatte das Gefühl einer Ohnmacht nahe zu sein.

Frau Gelfort hatte keinerlei Kenntnis darüber gehabt, dass sich ausgerechnet Amys Eltern hier befanden. Dies war zwar ein reiner Zufall, dennoch gelang es ihr nicht, das schadenfreudige Grinsen darüber zu verbergen. 

Es war nicht ungewöhnlich, dass Frau Klusmann die Eltern der Neuzugänge zu einem informalen Gespräch in ihr Büro lud. Entweder war nur dieses Paar der Einladung gefolgt, oder die anderen waren bereits gegangen. Doch egal wie es zu dieser schicksalhaften Fügung gekommen war, Frau Gelfort zeigte sich sehr erfreut darüber.

Für Amy stand mittlerweile fest, dass dies der schlimmste Tag ihres Lebens war.

Die Wahrscheinlichkeit seinen Eltern im Rektorat, ausgerechnet dann zu begegnen, wenn man soeben etwas ausgefressen hatte, war astronomisch gering.

Dummerweise ging diese Gleichung für Amy auf. Es war schließlich schon schlimm genug, sich vor der Rektorin verantworten zu müssen, doch dabei zusätzlich in die entsetzten und vorwurfsvollen Gesichter der Eltern schauen zu müssen, war zu viel. Amy kam sich klein und verloren vor.

Sie erwartete nicht, dass ihre Mutter sie tröstend in den Arm nahm. Um die Situation zu entschärfen, legte Amy ein verlegendes Lächeln auf, obwohl ihr eher zum Heulen zumute, war. Alle ihre Energie steckte sie in ein Stoßgebet, dass sie zum Himmel schickte.

„Was hast du angestellt? Und wie bist du überhaupt angezogen? So habe ich dich nicht aus dem Haus gelassen“, kam es vorwurfsvoll von der Mutter.

Frau Klusmann sah sich gezwungen den Redeschwall, durch eine freundliche Geste zu unterbinden. Zumal sie immer noch nicht wusste, wieso einer ihrer Lehrkörper in Begleitung einer Schülerin während der laufenden Unterrichtsphase bei ihr auftauchte. Sie war ausgesprochen neugierig zu erfahren, was es mit der außergewöhnlichen Störung auf sich hatte. Durch ihre Haltung machte sie deutlich, wer in diesem Büro den Ton angab.

Auffordern verlangte sie von Frau Gelfort sich zu erklären.

Der Zwiespalt der jungen Lehrerin war erkennbar. Sie wirkte ein wenig nervös, als sie mit ihrem Bericht begann und den Grund für ihr Eindringen preisgab.

Für einen kurzen Moment schaute Amy in die entrüsteten Minen ihrer Eltern, bevor sie verschämt auf den Boden starrte. Amy fühlte sich fehl am Platze. Sie konnte förmlich spüren, wie alle Augenpaare auf sie ruhten. Frau Gelforts Zusammenfassung der Geschehnisse war präzise und wahrheitsgemäß. Sie hatte weder etwas weggelassen noch verschönert. Was bedeutete, dass sie sogar das beleidigende Schimpfwort preisgegeben hatte.

Die eingetretene Stille empfand Amy als Qual. Es war die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Und dass sich ein Sturm zusammenbraute, hörte sie an dem aufgeregt klopfenden Fuß ihrer Mutter. Wenn diese unter großer Anspannung stand, dann hatte sie die Angewohnheit mit ihrem Fuß im schnellen Takt auf den Boden zu klopfen.

Amy kniff die Augen zusammen und fasste sich ein Herz. Es war nebensächlich, dass ihre Lehrerin und die Rektorin im Raum waren. Die einzige Person, die ihr wirklich das Leben zur Hölle machen konnte, war ihre Mutter.

Amys Überlebensinstinkt befahl ihr, für Schadensbegrenzung zu sorgen. Sie holte tief Luft und presste während des Ausatmens versöhnlich hervor: „Mama, ich kann dir alles erklären.“

„Wir alle sind an deiner Erklärung interessiert, junge Dame“, kam ihr Frau Klusmann zuvor.

Amy hasste diese Betitelung. Es war ein unverkennbarer Indikator dafür, dass man in ernsthaften Schwierigkeiten war, wenn die Schulleiterin jemanden als „junge Dame“ oder „jungen Herren“ bezeichnete.

Die Atmosphäre im Raum war erstickend. Alle starrten sie auffordernd an und warteten gebannt auf die versprochene Erklärung. Nervös blickte Amy von einem zum anderen. Ausgehend von den Gesichtsausdrücken, glaubte sie nicht, dass man für ihre Beweggründe, das notwendige Verständnis aufbringen konnte. Allesamt waren die Anwesenden zu alt, um sich an das wilde Gefühl erinnern zu können, dass die erste Liebe in einem Teenager auslöste. Wie wahnsinnig wichtig es war, den richtigen Eindruck bei seinem Schwarm zu machen. Dass es nur darauf ankam, dass Image zu wahren, da es das Einzige war, woran man untereinander gemessen wurde. Mit vierzehn Jahren zeigten sich die Mitschüler unbeeindruckt, wenn man gut in Mathe oder Latein war. Ein guter Schüler zu sein, war eher ein Handicap. Wollte man beim anderen Geschlecht Eindruck schinden, durfte man nicht zu angepasst sein. Man durfte durchaus ein schlechter Schüler sein, allerdings kein Dummkopf. Es gab diesen feinen Grad zwischen cool sein und Freak. Streber waren immer geächtet. Keiner wollte etwas mit ihnen zu tun haben. Jemand wie Lukas, dem es gelang die eigentliche Intelligenz dadurch hervorzuheben, dass er gezielt sitzenblieb; der war cool.

Es gehört eine Menge Mut dazu seinen alten Klassenverband zu verlassen und in einem anderen Jahrgang einzusteigen. Offensichtlich war Lukas auf Freundschaften in diesem neuen sozialen Umfeld aus. Freundschaften, die er nicht hätte eingehen können, wenn er in einer höheren Stufe blieb. Er hatte sich dieses Martyrium nur angetan, um mit ihr zusammen zu sein. Amy war sich dieser Ehre bewusst und wusste sein Opfer zu schätzen. Aus diesem Grunde war es ihr unmöglich ihren bisherigen angepassten Kurs beizubehalten. Sie musste sich seiner würdig erweisen und ihm zeigen, dass sie auf einer Wellenlänge lagen. Leider war dies nur dadurch möglich, wenn sie sich entgegen ihrem eigentlichen Charakter verhielt.

Doch wie sollte sie so komplexe Zusammenhänge, einem Haufen alter Leute begreiflich machen? Es war davon auszugehen, dass sie es nicht verstanden. Amy war verzweifelt.

Es war nicht so, dass sie sich nicht erklären konnte, es war nur so, dass alte Menschen nichts von Liebe verstanden. Vor allem ihre Mutter würde keinerlei Verständnis dafür aufbringen.

Ohne Lukas zu kennen, würde sie ihn verurteilen. Ihn automatisch als „faule Frucht“ abstempeln, wenn sie hörte, dass er ein Wiederholer war. Ihre Mutter hatte merkwürdige und altmodische Ansichten über das Schulleben.

Amys britischer Vater war in der Beziehung lockerer, da er nie eine Schule in Deutschland besucht hatte. Ihm fehlte einfach die Vergleichsmöglichkeit. Seine einzige Verbindung zum Deutschen Schulsystem erlebte er über seine Töchter. Und dennoch blieb es für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Alles was mit der Schule zu tun hatte, blieb für ihn unverständlich und undurchsichtig. Amy wusste nicht, ob es daran lag, dass er sich keine besondere Mühe gab das deutsche System zu verstehen, oder da er damals in England auf eine reine Jungenschule gegangen war. So viel wie sie wusste, gab es sitzen bleiben in Großbritannien überhaupt nicht. Aus diesem Grund war es für ihren Vater zu so unverständlicher zu begreifen, welches große Opfer Lukas ihretwegen gebracht hatte.

Amy blickte sich erneut um und sah die auffordernden Blicke.

Sie fühlte sich in die Enge gedrängt.

Egal was sie sagte, es würde falsch ausgelegt werden. Niemand würde nachvollziehen können und billigen, was sie aus Liebe zu Lukas getan hatte. Also entschloss sie sich für das einzig sinnvolle, sie verbog die Wahrheit.

„Wir warten immer noch auf deine Erklärung, junge Dame!“, erinnerte die Rektorin daran, dass die Zeit mit Schweigen vergeudet, wurde.

Der Druck auf Amy wuchs. Einem Lehrkörper Rechenschaft abzulegen, war schon schlimm genug. Doch hier waren es zwei und zu allem Überfluss noch in Gegenwart der Eltern. Das war Overkill.

Amy konnte nicht verhindern, dass sie ihre Schultern heraufzog und mit dünner Stimme ein weinerliches: „Ich weiß es nicht!“, von sich gab.

Noch bevor sie fähig war eine Lügengeschichte zum Besten zugeben, begann sie zu weinen. Obwohl sie sich innerlich dagegen wehrte und versuchte die Tränen zu unterdrücken, war das überwältigende Gefühl der Befreiung wesentlich stärker.

Immer wieder stammelte Amy unverständliche und zusammenhangslose Kommentare von sich, die es den Erwachsenen unmöglich machten, einen Sinn darin zu erkennen. Das Mädchen war einfach nicht mehr in der Lage einen zusammenhängenden Satz zu formulieren.

Sie fühlte sich so allein und unverstanden in diesem Raum.

Obwohl ihre Mutter verärgert über die Tat ihrer Tochter war, überwog das Mitleid. Tröstend und schützend legte sie ihren Arm um sie und zog das aufgelöste Kind zu sich. Liebevoll presste sie ihren Körper an sie.

Amy tat diese Geste gut.

Frau Klusmann schüttelte den Kopf. Eine derartig merkwürdige Szene hatte sich in ihrem Büro noch nie abgespielt. Sie kannte die Schülerin. Unterrichtete sie selbst. Sie hatte ihr in ihrem Unterricht, nie Grund zur Klage gegeben, daher konnte sie sich nicht vorstellen, dass das heutige Verhalten eine Wiederholung finden würde.

Die Rektorin fällte eine Entscheidung.

Da das Mädchen heute offensichtlich nicht mehr in der Lage war, dem Unterricht zu folgen, wies sie die Eltern an Amy mit nach Hause zunehmen. Damit ein wenig Grass über den Vorfall wachsen konnte, sollte das Mädchen erst übermorgen wieder zum Unterricht erschein.

Sie sollte sich lediglich etwas Ruhe gönnen und über die Angelegenheit nachsinnen.

Frau Klusmann unterstrich deutlich, dass es sich dabei um keine offizielle Suspendierung handelte. Sondern nur um eine außerordentliche Übereinkunft, die für alle Beteiligten das Beste war. Auf diese Weise wahrte nicht nur die Schulleitung, sondern auch Frau Gelfort das Gesicht. Schließlich war diese vor versammelter Klasse beleidigt worden.

Niemand der Anwesenden hatte etwas gegen die Entscheidung der Rektorin einzuwenden. Vater und Mutter zeigten sich sehr dankbar, dass Frau Klusmann von weiteren Maßnahmen absah.

Frau Gelfort nahm Amys freiwillige Entschuldigung gern an. Und Amy war froh darüber, dass sie so glimpflich davongekommen war. Ihre einzige Sorge war allerdings, wie Lukas auf ihren Unterrichtsausschluss reagierte.

Sie würde Lena auf alle Fälle nachher texten, was geschehen war und würde die ganze Angelegenheit selbstverständlich ein wenig aufbauschen.

 

 

Jeder der mitbekam wie Amy in Begleitung von Frau Gelfort zum Rektorbüro ging machte sich sofort Gedanken darüber, was ihr dort blühte.

In weniger als fünf Minuten kochte die Gerüchteküche bereits über.

Der Fantasie waren hierbei keine Grenzen gesetzt. Daher entstanden die wildesten Spekulationen. Nicht zuletzt, da ein derartiger Fall einmalig in diesem Klassenverband war. Die Schüler der jetzigen 8b waren allesamt keine Unschuldslämmer, doch hatte jeder ausreichend Respekt vor dem Lehrkörper, eine derartige Entgleisung zu unterlassen. Man war sich lediglich einig darüber, dass Amy zu weit gegangen war. Allerdings gingen die Meinungen bezüglich ihrer Veranlassung für ihre Dreistigkeit weit auseinander. Einige dieser Mutmaßungen waren verständlich, während andere hingegen schlichtweg verrückt erschienen.

So waren ein paar aus der Klasse der festen Überzeugung, dass Amys Verhaltensveränderung nur auf eine in den Ferien begonnene Drogensucht zurückzuführen war. Andere vertraten die Meinung, dass Amy ein häusliches Problem hatte. Hierbei war der einhellige Favorit, die bevorstehende Scheidung ihrer Eltern.

Fynn beharrte auf den Standpunkt, dass Amys zickiges Benehmen nur mit ihrem Zyklus zusammenhing. Jeder ignorierte seinen Kommentar, da in Fynns Vorstellung grundsätzlich alles auf den Zyklus eines weiblichen Wesens zurückzuführen war.

Lukas hatte sich von der allgemeinen Hysterie anstecken lassen. Da er neu in der Klasse war und keinen richtig kannte, wandte er sich direkt an Lena.

Vor reiner Aufregung war sie einer Ohnmacht nahe. Ausgerechnet Lukas kam zu ihr.

Es machte sie nervös, dass er sich direkt vor ihr gestellt hatte und sie aus seinen tief-grünen Augen ansah.

Ihr Herzschlag erhöhte sich. Das Blut pumpte schneller durch ihren Körper und blockierte offenbar ihr Gehör. Lena kam es vor, als sprach Lukas zu ihr wie durch eine Wand aus Wattebäuschen. Fasziniert hing ihr Blick an seinen Lippen.

„Du bist doch Amys beste Freundin, oder nicht!?“, stellte er mit einem charmanten Lächeln fest.

Lena war unfähig zu sprechen, also nickte sie nur und grinste ihn dabei schwärmerisch an.

„Ist sie immer so drauf?“

Das überforderte Mädchen schüttelte den Kopf.

Lukas wurde es langsam zu dumm. Er fühlte sich nicht ernst genommen.

„Was hast du für ein Problem? Kannst du nicht sprechen?“

Eindringlich schaute er sie an.

Lena wurde heiß und kalt. Sie musste etwas antworten, anderenfalls war die Gefahr groß sein Interesse zu verlieren.

„Sie beschäftigt sich mit Okkultem!“

Überrascht, aber auch gleichzeitig interessiert blickte er seine Gesprächspartnerin an.

Lena zuckte zusammen.

Sie konnte sich nicht erklären, woher diese Behauptung kam. Weder sie noch Amy hatten sich auch nur ansatzweise mit Okkultem beschäftigt. Eigentlich wusste sie noch nicht einmal genau, was das bedeutete. Sie merkte nur, dass Lukas Interesse geweckt war und das, dies ihr ein wohliges Gefühl vermittelte. Lena erkannte ihre Chance. Auf keinen Fall wollte sie die Gelegenheit ungenutzt lassen, also ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf.

Lukas packte sie beim Arm und zog sie von einer Gruppe umher stehender Mitschüler fort. Es brauchte ja nicht jeder mitbekommen, was sie besprachen.

„So ihr interessiert euch also fürs Okkulte. Das ist cool. Was macht ihr denn so?“

Seine grünen Augen schienen zu leuchten.

Lena wurde noch aufgeregter, als sie es ohnehin schon war. Irgendetwas Intelligentes musste ihr jetzt einfallen, wollte sie sich nicht lächerlich machen. Nur was konnte sie ihm, auf die Schnelle auftischen? Lena war keine geübte Lügnerin, daher war dieses Verhör sehr anstrengend für sie. Um Zeit zu schinden, schaute sie sich suchend um.

Dabei wanderte ihr Blick aus dem Fenster und blieb auf dem abbruchreifen alten Krankenhaus liegen. Ihr kam eine wahnwitzige Idee. Ohne diese auch nur probeweise zu durchdenken, deutete sie mit dem Finger aus dem Fenster auf, das entfernt liegende Gebäude.

„In den Ferien, sind wir um Mitternacht häufig durch die Krankenhausruine gelaufen, um Kontakt zu den Geistern aufzunehmen. Wie dir bekannt sein dürfte, spukt es dort.“

Gebannt starrte er auf die alte Ruine und lauschte ungläubig ihrer Aussage.

 

Lukas kannte die alte Krankenhausruine und die Schauergeschichten, die mit dem abbruchreifen Gebäude zusammenhingen. Er selbst hatte sich bereits einige Male über die Absperrung hinweg aufs Gelände gewagt. Doch hatte er sich noch nicht getraut während der Nacht dort aufzutauchen, obwohl es ihn unbändig reizte.

Das ihnen die beiden jüngeren Mädchen, um diese Erfahrung voraus war, ärgerte ihm genauso wie es ihm imponierte. Nie hatte er erwartet zwei so mutige Mädchen in einem Jahrgang unter sich zu finden. Bisher hatte er immer angenommen, dass diese Klasse nur aus Spießern und Strebern bestand. Doch wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Schließlich hatte er heute selbst miterlebt, wie Amy einen bühnenreifen Auftritt hingelegt hatte und sich dann auch noch unverschämt ihrer Klassenlehrerin gegenüber benahm. Vermutlich hatten diese Mädchen es faustdick hinter den Ohren.

Lukas gelangte zu dem Entschluss, dass wenn er schon dazu verdammt war, in dieser Klasse sozialen Anschluss zu finden, dann wollte er sich wenigstens mit den coolsten Typen zusammenschließen. Im Augenblick deutete alles daraufhin, dass es Lena und Amy waren. Lukas setze gerade zu einer Erwiderung an, als Lenas Handy zu piepen begann. Sie hatte eine SMS bekommen und lass diese ungeniert.

 

„Ich bin nach Hause geschickt worden. Alles OK. Nicht wirklich Ärger bekommen.“ Las sie dort. Lena zeigte sich erleichtert.

 

„Was ist los? Hat dir Amy eine Nachricht geschickt? Weißt du, was man mit ihr gemacht hat?“, erkundigte er sich neugierig und die Stimme verriet Sensationslust.

Lukas offensichtliches Interesse an Amys Schicksal ermutigte Lena dazu ihr Lügengerüst weiteraufzubauen, ohne an eventuelle Konsequenzen zu denken.

Rasch verschwand ihr Handy und damit der verräterische Text, indem sie es wieder in ihrer Hosentasche gleiten ließ. Sie war gezwungen sich frei zu räuspern, bevor sie überhaupt im Stande war einen Ton herauszubekommen.

„Amy ist suspendiert worden. Die Klusmann hat sie für die nächsten Tage kaltgestellt.“, log Lena.

Dass Lukas Augen vor Bewunderung strahlten, bestätigte ihr nur, dass sie auf dem richtigen Weg war. So eine kleine Ausschmückung der Wahrheit, konnte doch unmöglich jemanden schaden.

„Wow, das ist echt cool“, kam es anerkennend von ihm. „Ihr beiden seid nicht schlecht. Vielleicht kann man mal was gemeinsam unternehmen.“

Kameradschaftlich schlug er ihr leicht auf den Oberarm und ließ sie stehen.

Lena fühlte sich wie im siebten Himmel.

Für sie hatte sich damit ein Traum erfüllt. Lukas hatte nicht nur ihre Existenz bemerkt, sondern wollte tatsächlich seine wertvolle Zeit mit ihr verbringen. Ein glückliches Lächeln huschte über ihre Lippen. Amy würde vor Neid erblassen, wenn sie davon erfuhr. Augenblicklich verschwand das glückselige Grinsen von ihrem Gesicht.

Langsam bemerkte sie, was für einen Blödsinn sie erzählt hatte, nur um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Amy würde es auf keinen Fall gefallen, wenn sie erfuhr, was sie angestellt hatte.

Lena befand sich in der Zwickmühle. Unmöglich konnte sie ihrer besten Freundin erklären, dass sie aus ihr eine wagemutige Geisterjägerin gemacht hatte. Die nichts Besseres zu tun hatte, als um Mitternacht durch unheimliche Bauruinen zu laufen. Vor allem, da man Amy noch nicht einmal bei Tage in die Nähe des alten Krankenhauses bekam. Und für ihr verrücktes Verhalten heute Morgen, gab es bestimmt eine harmlose und langweilige Erklärung. Dummerweise reicht harmlos und langweilig nicht aus, um einen Typen wie Lukas zum Freund zu bekommen. Er war ein Draufgänger. Und so jemand brauchte Gleichgesinnte. Da musste man sich eben etwas einfallen lassen.

Lena beruhigte ihr Gewissen damit, in dem sie sich einredete nur die Wahrheit neu interpretiert zu haben. Richtig gelogen, hatte sie nach ihrer Meinung nicht.

Die einzige Schwierigkeit, war Amy davon zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung war.

Obwohl sie heute nicht den Eindruck gemacht hatte, war Amy eher ein bodenständiger Typ. Das genaue Gegenteil von dem, was Lukas heute von ihr erlebt hatte. Allerdings glaubte Lena auch, dass Amy ihr trotzdem dankbar sein würde, schließlich war es nur ihrer schnellen Reaktion zu verdanken, dass Lukas sie für cool hielt. Somit hatte sie einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass der Freundschaft mit Lukas nichts mehr im Wege stand.

Er war ihr schon so gut wie sicher.

 

 

Die schweigsame Heimfahrt ließ Amy nichts Gutes ahnen. Das niemand mit ihr ein Wort wechselte verstärkte ihr Unwohlsein. Würden sie wenigstens schreien, schimpfen oder toben - doch nichts! Sie saßen nur da und starrten verkrampft aus dem Fenster. Amy tat es ihnen nach. Sie blickte aus ihrem Seitenfenster und schaute sich die Straßen an durch die sie fuhren. Ausgerechnet heute nahm sie ihre Umwelt wesentlich bewusster wahr. Es kam ihr vor, als galt es von dieser Welt Abschied zu nehmen. Amy war davon überzeugt, dass sie die Alleebäume, Bürgersteige, Häuser und Autos für eine lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde. Vermutlich warteten ihre Eltern nur darauf, dass sie im Schutze der Wohnung ihre Tochter umbringen konnten.

Amy seufzte.

Je mehr sie darüber nachdachte, umso wahrscheinlicher erschien es ihr, dass man ihr zu Hause den Kopf abreißen würde. Schwermütig blickte sie auf die Hinterköpfe des Paars. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass diese zwei eigentlich ziemlich netten Leute, gleich zu wilden Bestien werden mussten.

Die Fahrt war beendet.

Der Vater hatte einen Parkplatz direkt vor dem Haus gefunden. Schweigend stieg die Familie aus und begab sich ins Haus. Ihre Mutter lief voraus, langsam gefolgt vom Vater.

Amy hatte es jedoch nicht eilig in die Wohnung zu kommen. Als kostete ihr jeder Schritt eine enorme Anstrengung, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Obwohl sie trödelte, kam es ihr vor als erreichte sie die Wohnungstür viel zu schnell.

Was für ein verrückter Tag.

Innerlich gab Amy Jana an allem die Schuld. Wenn die Kurze nicht auf ihre Schule gewechselt wäre, dann hätte sie sich heute Morgen nicht so aufgeregt und ihr wäre dieser dumme Fehler erspart geblieben. Ja, alles war wie immer Janas schuld. Doch egal, wie einleuchtend diese Zusammenhänge für Amy auch waren, würde sie es ihren Eltern nicht begreiflich machen können. Das war ja schon immer so gewesen. Nie verstanden sie ihre Beschwerden bezüglich Jana. Wieso sollte es heute anders sein?

 

Die Mutter stand im Türrahmen und deutete stumm mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Küche.

Mit gesenktem Kopf schlurfte Amy an ihr vorbei. Ausgerechnet da hinein.

Dies war der Ort, an dem der Familienrat tagte. Hier wurden schwerwiegende Entscheidungen getroffen. Amy fühlte sich wie ein Schaf, dass zur Schlachtbank geführt wurde. Vorsichtig setzte sie sich auf ihren Stammplatz und wagte es nicht aufzublicken.

Die Atmosphäre war angespannt. Amy traute sich kaum zu atmen. Sie fand dieses Szenario unpassend und übertrieben. Schließlich hatten ihre Eltern Gelegenheit genug gehabt über ihr Verhalten in Frau Klusmanns Büro, oder auf der Heimfahrt mit ihr zu reden. Weshalb musste man auch noch zu Hause, die mittlerweile alten Kamellen auftischen?

Amy wusste doch auch so, wie ihre Strafe aussah. So sollte sie heute und morgen vom Unterricht fernbleiben und damit war die Sache erledigt. Außerdem hatte sie sich schon bei Frau Gelfort für ihre verbale Entgleisung in aller Form entschuldigt. Also was wollten ihre Eltern noch von ihr? Wieso behandelte man sie so ungerecht und quälte sie noch zusätzlich?

Amy war empört.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie etwas Dummes gemacht und schon fallen alle über sie her. Das hatte doch wohl kaum etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Sie taten gerade so, als hätten sie in ihrer Jugend keine Fehler gemacht. Amy schauderte vor dem nächsten Gedanken.

Vermutlich musste sie sich wieder eine von den berüchtigten „Als-ich-in-deinem-Alter-war“ Reden anhören. Wenn ihre Mutter nur wüsste, wie unpassend und langweilig diese Vergleiche waren.

Das war eben das allgemeine Problem. Eltern verstanden ihre Kinder überhaupt nicht. Wie sollten sie auch? Dagegen sprach schon die technologische Entwicklung. Amys Eltern waren sogar für die Überlebenswichtigkeit eines Handys absolut blind. Für sie war es nur ein mobiles Telefon. Verstanden aber nicht, dass es weitaus mehr war als dieses. Es war wie ein Teil von einem selbst. Eine Art zweites Gehirn. Hier waren Daten gespeichert und es ermöglichte einem Zugang zu einer anderen Welt. Man war praktisch und überall mit seinen Freunden verbunden und konnte sich in rasender Schnelle austauschen. Amy war vollkommen vertieft in ihrer Gedankenwelt, als das Geräusch des Wasserkochers sie aufschreckte.

Vater hatte ihn angestellt, um Tee zu zubereiten. Das tat er immer. Für ihn gehörte ein Cuppa einfach dazu. Engländer eben!

Erst nachdem jeder mit einer Tasse Earl Grey versorgt worden war, begann der Familienrat zu tagen.

„Dein Vater und ich sind sehr enttäuscht von dir. Was du dir heute geleistet hast, ist unfassbar für uns. Haben wir dich so erzogen, dass du dich wie ein Straßenkind benimmst?“, warf ihr die Mutter theatralisch vor.

Amy atmete hörbar durch die Nase aus. Ihr war die Situation unangenehm. Und das Heranziehen von unpassenden Vergleichen, machte es noch schlimmer für sie. Die Mutter liebte so etwas. Erfahrungsgemäß würde es nun nicht lange dauern, bis sie mit einem „Als-ich-in-deinem-Alter-war“ weiter machte. Amy wusste nur nicht, was sie überhaupt auf die Vorwürfe antworten sollte. Egal was sie sagen würde, sie konnte es nur verschlimmern.

„Antworte deiner Mutter gefälligst“, mischte sich zum ersten Mal der Vater ein, ohne wirklich hilfreich zu sein.

Amy fühlte sich in die Enge gedrängt. Das Kräfteverhältnis war ungleich und unfair – zwei zu eins.

Was wollten ihre Eltern, denn von ihr hören? Dass es ihr leidtat und sie so etwas nicht wieder tun würde? - Ja, gern.

Amy hatte kein Interesse daran etwas Derartiges zu wiederholen. Nur schien es ihr unmöglich, die Eltern davon zu überzeugen. Irgendwie schaffte sie es nicht, ihre Gedanken auch auszusprechen. Es schien, als weigerten sich die passenden Worte auf ihrer Zunge geformt zu werden. Dennoch versuchte sie es. Trotzdem funktionierte es nicht richtig. Es kam ihr vor, als würde sie in einer vollkommen anderen Sprache zu ihren Eltern sprechen. Keiner der abgegebenen Erklärungsversuche klang plausibel. Es war wie verhext. Trotzdem versuchte sie erneut ihr Glück.

„Kein Grund sich aufzuregen. Es ist heute nur einfach dummgelaufen! Ich habe es nicht mit Absicht getan.“

Wie erwartet, gab sich ihre Mutter mit dieser dünnen Erklärung nicht zufrieden. Im Gegenteil, sie wertete sie als Provokation, obwohl Amy es auf keinen Fall so gemeint hatte.

„Kein Grund sich aufzuregen, meinst du? Ich will dir mal was sagen, meine liebe Tochter. Wenn ich mir in deinem Alter eine derartige Ungeheuerlichkeit erlaubt hätte, dann hätten mir deine Großeltern den Hintern versohlt.“

„Dein Pech, dass das nun gesetzlich verboten ist…“, murmelte Amy und biss sich augenblicklich auf die Unterlippe.

Unbeabsichtigt hatte sie diesen Gedanken laut geäußert. Ihr war sofort bewusst, wie unklug das war. Doch zurücknehmen konnte sie es nicht mehr.

Die Augen ihrer Mutter weiteten sich vor Entsetzten. Erschüttert über diese Dreistigkeit blickte sie Amy vorwurfsvoll an. Hörbar rang sie nach Luft und fasste sich bühnenreif an die Brust.

„Also, da hört sich ja alles auf. Was glaubst du eigentlich, was du dir noch alles herausnehmen kannst? Alles was wir wollten, war mit dir in Ruhe reden. Und was machst du? Du benimmst dich wie eine freche Göre. So etwas haben wir nicht verdient. Du gehst sofort auf dein Zimmer. Mit sofortiger Wirkung hast du eine Woche Stubenarrest, Handy- und Internetverbot. Wollen doch mal sehen, ob wir dir kein gutes Benehmen beibringen können.“

Auffordernd deutete die Mutter mit ihrem ausgestreckten Finger in Richtung Kinderzimmer und hielt ihrer Tochter die geöffnete Handfläche der anderen Hand entgegen.

Amy verstand die Geste zu gut.

Sie griff in die Tasche und holte das Handy hervor. Zögerlich legte sie es in die offene Handfläche ihrer Mutter. Es tat ihr weh zu zusehen, wie sich die Hand um das Gerät schloss.

Amy fühlte sich genauso gefangen, wie ihr Handy. Mit dem Hausarrest hätte sie durchaus leben können, doch dass man ihr die Verbindung zur Außenwelt wegnahm, traf sie hart.

Mitleiderheischend schielte sie zu ihrem Vater, um ihn so auf ihre Seite zu ziehen.

Dieser entzog sich seiner Verantwortung und überließ seiner Frau das Feld. Auf keinen Fall wollte er zwischen die Fronten geraten. Das mussten die beiden selbst klären.

Amy versuchte es auf die reumütige Art, allerdings ohne sich zu entschuldigen.

„Kann ich nicht wenigstens Lena texten, damit sie weiß, was los ist?“

 „Nein!“ Die Mutter blieb hart und fügte sarkastisch an: „Du wirst schon nicht daran sterben, dass du nicht texten kannst. - Als ich in deinem Alter war, da hatten wir keine Handys und wir haben auch überlebt.“

Amy biss sich auf die Lippen. Den letzten Kommentar hätte sich ihre Mutter wirklich sparen können.

Seufzend erhob sie sich vom Tisch und ging aufs Zimmer; ihrem Gefängnis.

Wütend warf sie sich auf ihr Bett und schnappte sich ihren Teddybären. Sie verstand immer noch nicht, wie sie in diese dumme Situation geraten konnte. Wieso alles so eskalierte. Das Leben war ungerecht.

Eine ganze Woche Stubenarrest ohne Handy und Internet, bedeutete für sie das Ende ihres sozialen Lebens. Genauso gut hätten sie ihre Eltern lebendig einmauern können. Wieso verstanden alte Leute nicht, dass ein Handy wesentlich mehr war als nur ein Telefon?

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